ICH GEHE - ALSO BIN ICH - ein multimedialer Gedankengang
Diplomausstellung, Garten/Gang/Aula, Universität der Künste, Berlin, 1990
Zu den Arbeiten Christin Lahrs

Zwischen Umhergehen und Verharren, zwischen Sehen und Erfahren, bewege ich mich als Passantin zwischen dem ersten und dem zweiten Kreis. Der erste wird außen von einer Frau beschrieben, deren Unterschenkel von schwankenden Eisenstangen vertikal verlängert sind und die auf dem Kopf eine lange Stange horizontal balanciert. Auf dem Weg von außen nach innen passiere ich einen langen Gang, schlüpfe durch schmale oder niedrige eiserne, doch flexible Tore, gehe auf unsicherem, zum Teil schwankendem Grund: ein fast unhörbarer Ton begleitet mich. Ist es der Rhythmus meiner unsicher gewordenen Schritte? Verunsichert der tönende Rhythmus meine unsicher gewordenen Schritte? ... Am Ende öffnet sich eine schmale Passage in den Innenraum, in dem Vergegenständlichungen von Bewegungsspuren zu sehen sind. ... Hier findet sich der innere zweite Kreis: eine stille weiße Fläche, die Unberührbarkeit signalisiert. Der Stoff, der sie bildet, verlangt förmlich danach, in die Hände, unter die Füße genommen zu werden: Mehl.

Christin Lahr konzipiert Aktionen und Inszenierungen, die das Gehen als menschliche Fortbewegungs- und Erfahrungsfähigkeit von verschieden Perspektiven aus sinnfällig machen. Sie installiert Durchgänge, Räume und ruft in den individualisierten Handlungen der "Passanten Zeitverläufe ins Bewusstsein, während derer vergessene, doch altbekannte Erfahrungen gesammelt werden können. Ansatzpunkt ihrer Arbeit ist die Erkenntnis, wie im Laufe der sich entwickelnden Zivilisation Veränderungen und Krisen in der menschlich originären Fortbewegung und damit in der Wahrnehmung, die ja zunächst einmal leiblich bedingt ist, auftreten. Intensive, alle Sinne umfassende Wahrnehmung und Erkenntnis, Muße und stiller Genuss für sich sind rar geworden, haben an Bedeutung verloren, werden mehr oder weniger fadenscheinig-medial simuliert. Üppig daherkommender Ersatz verdeckt allerdings den Wirklichkeits- und Sinn(-en)verlust der insgeheim imgange ist. Diesen Verlusten setzt Christin Lahr eine Würdigung und differenzierte Deutung des Gehens und damit im weiteren Sinne des Erlebens entgegen.

Sie problematisiert ihre gestalterische Arbeit, welche eine Mischung aus Ereignis, Inszenierung und Ausstellung darstellt, im Kontext der Definitionen von (visueller) Kommunikation. Der Versuch, ihr Verständnis davon vorzustellen, geht nicht ab ohne radikale Kritik an dem gesellschaftlichen herrschenden, eindimensionalen Verständnis des Begriffes, gemäß dem Modell vom Rezipienten, der Empfänger der Botschaften des Senders ist. Das bedeutet für ihre künstlerische Arbeit, dass sie einen offenen Versuch unternimmt, die Grenzen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Autorschaft und Rezipiententum zu überschreiten. Sie formuliert ein Konzept und ästhetische Akte, welche die Bilder und die "eindeutigen" Erkenntnisse (fast) verweigern. Dies ist eine Herausforderung angesichts der Bilderfluten, die wir täglich zu bewältigen haben, auf welcher Seite des "Kommunikationsmodells" wir auch immer stehen mögen.

Christin Lahr handelt von ästhetischen Prozessen, welche im Moment entstehen oder längst vergangen sind. Diese ästhetischen Handlungen fallen immer unterschiedlich aus - gemäß der jeweiligen Person und den ihr eingeprägten Fähigkeiten oder Intentionen sozialer und individueller Wahrnehmung, die sich an den Prozessen des Gehens und Wahrnehmens in dem von der Künstlerin geschaffenen Environment beteiligt. Die Arbeit führt an einem locker geknüpften roten Faden, der immer wieder von "labyrinthischen" Einfügungen durchkreuzt wird und verknotet ist mit verlockenden "Seitenwegen", durch die komplexen Gedankengänge des Problems - zu keinem Ende. Vielmehr will Christin Lahr Anstöße geben, die Anfänge für eigene Gedankenbewegungen sein können. Der hieraus entstehende multimediale und alle Teilnehmer auf ihre Art einbeziehende Gedankengang fließt in das künstlerische Konzept ein, welches ein vehementes Plädoyer ist, für die Wiederbelebung der Sinne, die im Schwinden begriffen sind. Die Künstlerin begreift sich selbst in diesem Prozess, den sie auslöst "lediglich als Fragestellerin, die gegenüberstellt, Konstellationen schafft...

Ingrid Wagner-Kantuser, in: Ausstellungskatalog “INTERVALL 91”, Hrsg. Hochschule der Künste, Berlin, 1991
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